Mehr Raum für die Sinne
von Axel Biesler
Winzer, Sommelier und Journalist
Ein grell-weiß ausgeleuchteter Raum. Eine laborähnliche Situation. Auf dem Seziertisch der Fachleute landen Weine aller Gattungen und werden in ihre sensorischen Einzelteile zerlegt, um zu einer Zahl zwischen 0 und 100 zusammengeflickt zu werden. Eine reine Summenbildung aus den Parametern Aussehen, Geruch und Geschmack. Je mehr desto besser. Das alles geschieht in Prestissimo-Abständen. Keine Zeit für Sinnlichkeit.
Das Sensorium. Eine Weinprobe in völliger Dunkelheit! Für alle gilt – dem Sehsinn eine Zeitlang beraubt –, sich und die anderen in einer ungewohnten Situation neu zu verorten, sich zu beschnuppern. Das verbraucht Zeit. Einerseits. Andererseits erzeugt dieser Prozess aber auch Zeit und eine neue Wirklichkeit, die sich aus dem „chemischen Sinn“ speist und nach einer neuen Sprache verlangt. Jeder, der schon einmal von der Einzigartigkeit eines Weines überwältigt wurde, weiß um die Zeit, die es braucht, bis ein Wein wirklich berührt und um die Misere, diese Einzigartigkeit in Worte zu kleiden. Die Weinprobe in völliger Dunkelheit schafft – ganz unmerklich – Zeit für diese Berührungen und schärft die Sinne für eine neue Weinansprache.